Was ist Widerstand?
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Liegt ein schlechter Scherz schon auf halbem Weg zum Widerstand mitsamt Systemumsturz? Was hier selbst als Scherz gelten könnte, bedarf doch einer kontextsensiblen Analyse, denn ein regierungskritischer Witz im Rahmen einer rechtsstaatlichen Demokratie fällt auf anderen Boden als im unberechenbaren Willkürstaat des „Dritten Reiches“. Unter nationalsozialistischen Bedingungen changierte der politische Witz zwischen Kritik am Regime und – kurioserweise – einer systemstabilisierenden Funktion, wie Christoph Studt in seinem Beitrag darlegt: Während das propagandistisch nützliche Gerücht überliefert ist, Hermann Göring habe für einen guten Witz auf seine Kosten sogar eine anerkennende Belohnung gezahlt, steht doch zweifelsfrei fest, dass, wer den Nationalsozialismus oder sein Spitzenpersonal öffentlich karikierte, Haft und Schlimmeres zumindest riskierte. Auch wenn selten sicher gewesen sei, ob und wie hart ein politischer Witz im „Dritten Reich“ geahndet würde, so habe doch allein schon diese Unsicherheit eine systemstabilisierende Wirkung entfaltet, wenn man sich in der Bevölkerung, mit Shakespeare gesprochen, als „Feigling aus Instinkt“ selbst zensiert habe. Humor, so stellt es der Beitrag heraus, sei im Nationalsozialismus nicht zwangsläufig Ausdruck von Widerstand gewesen, sondern habe sich zwischen Opposition und Systemstabilisierung bewegt.
Wenn Humor dem Widerstand nicht klar zuzuordnen sei, so erscheint der antike Tyrannenmord doch gemeinhin als Inbegriff von Widerstand schlechthin. Dieses renitente, doch quellenferne Präjudiz dekonstruiert Konrad Vössing, wenn er das Fehlen eines auch nur klar umrissenen Begriffs, der das Phänomen Widerstand überhaupt näher bezeichnet hätte, in der griechischen wie römischen Antike nachweist. Ob dazu der Tyrannenmord gerechtfertigt gewesen sei, habe viel eher sein Erfolg und die ihm nachfolgende Propaganda als ein universal anerkanntes ethisches Recht auf Widerstand in der Antike bestimmt. Erst die aufklärerische Rezeption dieses literarisch verarbeiteten Topos in der Kombination mit einem dem Christentum entstammenden ethischen Universalismus habe das neuzeitliche Recht zum Widerstand durch Tyrannenmord begründet, stellt der Beitrag von Konrad Vössing heraus.
In der Beständigkeit, in der der Widerstandsbegriff durch die extremistischen Ränder des politischen Spektrums immer wieder als Legitimation für gewaltbereite Attacken gegen die liberale Demokratie bemüht wird, liegt ein bemerkenswertes Lernpotential begriffen, das Peter Geiss anhand des Widerstandsbegriffes des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903–1968) in seinem Beitrag freilegt. Denn die rechts- wie linksextremistische Instrumentalisierung von „Widerstand“ schärft den Blick von Schülerinnen und Schülern für den Kern des Phänomens und eine Analyse des Kontextes, in dem es jeweils zu verorten ist: Welche Handlungsmöglichkeiten bietet der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat der Bundesrepublik für oppositionelles Handeln im Vergleich zu einer totalitären Diktatur? Welche Folgen wären in dem einen wie dem anderen Kontext zu erwarten? Und worin unterscheiden sich die Handlungen der Verschwörer des 20. Juli 1944 von den Protesten gegen die Abholzung des Hambacher Forsts? Peter Geiss analysiert, wie vielfältig und tiefgehend die Lernmöglichkeiten zur Urteilsbildung am Widerstandsbegriff sind.
Mit den Notstandsgesetzen des Jahres 1968 gelangte auch das verbriefte Recht, bei Versuchen, die danach trachten, die verfassungsmäßige Gestalt der Bundesrepublik außer Kraft zu setzen, Widerstand gegen solche Bestrebungen zu leisten, in Form des Art. 20 Abs. 4 ins Grundgesetz. Dass ein derart verfasstes Recht, das erst ausgeübt werden darf, wenn sein normativer Rahmen mit dem Grundgesetz bereits außer Kraft gesetzt ist, eine Reihe an staats- und rechtsphilosophischen Problemen aufwirft, erläutert Otto Depenheuer. Denn nicht nur die paradoxe Anwendbarkeit des Widerstandsrechtes erst ab dem Punkt, an dem es außer Kraft gesetzt wird, lässt es diskussionswürdig erscheinen, sondern auch die Frage, was es im intakten demokratischen Verfassungsstaat, in dem oppositionelles Handeln grundgesetzkonform jederzeit möglich ist, überhaupt ausdrücken soll. In die Geschichte und philosophischen Aporien des Widerstandsrechts führt Otto Depenheuer ein.
Die Frage, ob sich Proteste wie die gegen die Abholzung des Hambacher Forsts in eine Reihe mit den Ereignissen des 20. Juli 1944 stellen lassen, ist im Tagungstitel überspitzt aufgeworfen und verweist auf die inflationäre Verwendung des Begriffs „Widerstand“ für eine kaum umrissene Vielfalt an Formen oppositionellen Handelns und Denkens. Sie verweist aber auch auf die nicht minder vielfältigen geschichtswissenschaftlichen Versuche, die heterogenen Denk- und Handlungsweisen begrifflich präzise zu umreißen, die sich im „Dritten Reich“ gegen den Nationalsozialismus formierten. Denn mit dem Überlebenskampf der Juden, dem Widerstand von Arbeitern und Kommunisten, dem militärischen Widerstand, dem Widerstand aus den Kirchen gegen das Regime, dem bürgerlichen und liberalen Widerstand und auch alltäglichem Nonkonformismus existiert eine große Bandbreite an verwandten, aber doch voneinander unterscheidbaren Phänomenen, die nach wissenschaftlicher Einordnung und begrifflicher Klarheit verlangen, ohne dabei eine „Benotung“ oder moralische Klassifikation zu intendieren. Diese Klarheit stiftet Ulrich von Hehl in seinem Beitrag zum langen Ringen um eine angemessene Terminologie des Widerstands.
Den Stufenmodellen widerständigen Verhaltens von Konrad Repgen, Hans Günter Hockerts und Klaus Gotto,[1] von Patrick von zur Mühlen und Richard Löwenthal[2] und der hieran geäußerten Kritik von Detlev Peukert[3] oder Martin
Broszat[4] fügte Peter Steinbach[5] ein eigenes Modell hinzu: Den integrativen Widerstandsbegriff, der prinzipiell alle Formen widerständigen Verhaltens einfangen und nicht nach politischer, konfessioneller oder milieubedingter Herkunft bewerten wollte. Über dieses von der Praxis jahre- und jahrzentelanger Bildungsarbeit inspirierte Konzept eröffnet Peter Steinbach in seinem Beitrag weitere Dimensionen von Widerständigkeit.
Nicht allein das intensive wissenschaftliche Ringen um eine adäquate Terminologie des Widerstands zeugt von der ungemeinen Vielschichtigkeit des Phänomens in seinen Motivlagen, seiner Umsetzung und seinen diversen Zielen. Auch die Verstrickungen der prominentesten Vertreter des einen Systemumsturz anstrebenden Widerstands in die Diktatur belegen, dass vereinfachende, binäre Kategorien wie „gut“ und „böse“ komplexen historischen Zusammenhängen nicht gerecht werden. Die Debatten der 1990er-Jahre, die das lange gehegte bunderepublikanische Wunschbild einer „anständigen Wehrmacht“ endgültig als rechtfertigende Illusion entlarvten, analysierten auch zum ersten Mal die Beteiligung von Mitgliedern des militärischen Widerstands an Kriegsverbrechen. Im Sommer 2019 wurde diese Debatte nun durch einen Aufsatz[6] des polnischen Regierungsberaters Maciej Olex-Szczytowski in der renommierten Zeitschrift War in History auf die vielleicht prominentesten Vertreter des Widerstands überhaupt enggeführt: Claus Graf Stauffenberg, Fritz-Dietlof von der Schulenburg und Henning von Tresckow, so die These des Aufsatzes, seien persönlich an Kriegsverbrechen an der „Ostfront“ beteiligt gewesen. Diesen schwerwiegenden Vorwurf diskutiert Winfried Heinemann in seinem Beitrag und gelangt zu einem deutlich anderen Ergebnis.
Wie der Tagungstitel andeutet, endet der wissenschaftliche Untersuchungszeitraum des Widerstands keineswegs mit dem Zweiten Weltkrieg. Vielmehr bietet sich ein Konzept, das stets auch zu Legitimationszwecken herangezogen wurde: ob erinnerungspolitisch, zur Fundierung von Gründungsmythen oder heute in aktivistischen Bewegungen – die Identifikation mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus scheint das eigene Anliegen zu veredeln und ihm eine unanfechtbar noble Stoßrichtung zu verleihen. So kann es nicht verwundern, dass mit dem Ende der einen Diktatur in Deutschland sich die zweite auf eben diesen Boden stellen wollte: Fraglos stellte der kommunistische Kampf gegen das „Dritte Reich“ eine der wichtigsten und opferreichsten Widerstandsbewegungen gegen den Nationalsozialismus dar. Nichtsdestoweniger verengte die Perspektive der DDR den zahlenmäßig zwar stets geringen, nach Motivlagen jedoch vielfältigen Widerstand geradezu teleologisch auf dessen „antifaschistische“ Facetten, die wiederum, so die vereinfachende Propaganda der DDR, das Fundament des SED-Staates gebildet hätten. Wie der Widerstand in der DDR durch die ideologisch gebogene Linse der Staatsführung für Legitimationszwecke vereinnahmt wurde und wie sich dies im Vergleich zur Bundesrepublik ausnahm, beantwortet der Beitrag von Joachim Scholtyseck.
In der transnationalen Chiffre „1968“ verdichtete sich in vielen westlichen Gesellschaften zum ersten Mal seit Kriegsende ein Protestpotential, das auch in Deutschland Komponenten systemischer Kritik entfaltete. Denn über den bloßen Bruch von Hausordnungen durch Sit-ins hinaus, weckten die von der ersten Großen Koalition erlassenen „Notstandsgesetze“ bis in die bürgerliche Öffentlichkeit hinein Befürchtungen eines autoritären Richtungsschwenks der Bundesrepublik. Bei diesen Befürchtungen blieb es in kleinen Teilen des Protestspektrums bekanntermaßen nicht, wenn neben der weitaus größeren, friedlichen Mehrheit der Protestierenden von einer militanten Minderheit der gewaltsam herbeizuführende Systemumsturz angestrebt wurde. In der Binnenlogik der Letzteren, aus denen sich schließlich die „Rote-Armee-Fraktion“ rekrutieren sollte, galt es folglich, systemischen Widerstand gegen die bundesrepublikanische Demokratie zu leisten. In die geistige Genese und innere Logik dieses Denkens führt Wolfgang Kraushaar ein.
Nach der Renaissance von Widerständigkeit um das Jahr 1968 und seine Ausläufer lässt sich mit dem Blick auf das vergangene Jahrzehnt und die Gegenwart eine Wiederkehr des Widerstands unter anderen Bedingungen und mit neuen Themen beobachten. Mit dem Aufflammen eines signifikanten Protestpotentials, das sich für das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ zeitweise im Widerstand gegen den Staat oder wenigstens gegen die damalige baden-württembergische Landesregierung sah, begegnet der Umwelt- und Klimaschutz kontinuierlich als Reibungsfläche zwischen aktivistischen Gruppen und dem Staat. An den Beispielen der Proteste gegen die Abholzung des Hambacher Forsts, den Demonstrationen der „Fridays for Future“-Bewegung und den Aktionen der radikaleren Vereinigung „Extinction Rebellion“ zeigt Manuel Becker, welche Betätigungsmöglichkeiten die freiheitlich-demokratische Grundordnung diesen Protestformen und Gruppierungen ermöglicht und wo Teile dieser Gruppen den Schritt über den Boden des Grundgesetzes hinaus wagen.
[1] Vgl. Klaus Gotto/Hans Günther Hockerts/Konrad Repgen: Nationalsozialistische
Herausforderung und kirchliche Antwort. Eine Bilanz, in: Klaus Gotto/Konrad Repgen (Hrsg.): Kirche, Katholiken und Nationalsozialismus, Mainz 1980, S. 101-118, hier: S. 103 f.
[2] Vgl. Richard Löwenthal: Widerstand im totalen Staat, in: ders./Patrick von zur Mühlen (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945, Bonn 1997, S. 11-24, hier: S. 14-23.
[3] Vgl. Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 97 f.
[4] Vgl. Martin Broszat: Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts, in: ders./Elke Fröhlich/Anton Grossmann (Hrsg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd. 4, Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C, München/Wien 1981, S. 691-709.
[5] Vgl. Peter Steinbach: Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen. Ausgewählte Studien, Paderborn u. a. 22001.
[6] Vgl. Matthew Olex-Szczytowski: The German Military Opposition and National Socialist Crimes, 1939–1944. The Cases of Stauffenberg, Tresckow, and Schulenburg, in: War in History (2019), S. 1-25, zitiert nach URL: https://journals.sage- pub.com/doi/abs/
10.1177/0968344519840054 (letzter Zugriff: 21.02.2021).
Zitiert nach: Daniel E.D. Müller/Christoph Studt, „Unzeitiger Widerstand“?, in: Daniel E.D. Müller/Christoph Studt (Hrsg.), Vom 20. Juli 1944 zum Hambacher Forst. Der Begriff des Widerstandes = Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V., Bd. 29, Augsburg 2021, S. 12-15.